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Kriegsende in Wernersreuth

Veröffentlichung:


Zusammengefasst von Prof. Dr. Herbert Braun

Ende 1944

An einem sonnigen Herbsttag ruft mich Großvater vors Haus auf die Rankwiese und weist nach oben. In großer Höhe ziehen lautlos silberfarbene Formationen amerikanischer Bomber durch die Himmelsbläue langsam nach Osten. Die Alliierten haben die Lufthoheit, die Deutschen können nur noch mit Flak (= Flug-Abwehr-Kanonen), Alarm und Feuerwehr dagegenhalten. Als ich Mutter nach Rommersreuth begleite, stoßen wir im Himmelreicher Wald auf einen riesigen Holzturm: zur Beobachtung, wo es brennen könnte.

Im Winter bedecken grünschwarz beklebte Stanniolstreifen Wies und Feld, von Feindflugzeugen zur Tarnung abgeworfen. Wir sammeln sie auf, wenngleich der Roßbe-Johann warnt: „Da ist Gift dran!“

Anfang 1945

Großvater kommt vom Exerzieren beim Volkssturm heim. „Heute mussten wir singen: Ich bin der Bub vom Elstertal, wir sehen uns heut zum letzten Mal.“ Er lacht.

Steckengebliebener Panzer

Ein illustratives Foto

Volkssturmmänner heben ein Schützenloch neben den Steinbruchfelsen aus und bauen mit dicken Erlenstämmen eine Panzersperre über die Nassengruber Straße am Kalten Eck. Dort ist im morastigen Tal ein deutscher Panzer steckengeblieben und verlassen worden. Niemand kann sagen, wo er dort hinwollte. Die Dorfjugend schlachtet ihn aus, ich ergattere etliche Rollen Zündschnüre.

Bald ziehen deutsche Soldaten durch. Einem stockt sein Holzgaser beim Petersbrünnerl, wir schieben das Fahrzeug an. Dann fällt ein hungriger Trupp von 20 Landsern in unseren Hof ein, Großmutter kocht ihnen einen Kessel Erdäpfel, die sie ungeschält mit Salz verzehren, bevor sie weiterziehen. Das Schützenloch beim Steinbruch bleibt unbemannt, zur Straßensperrung quartieren sich drei Landser in Künzels Haus Nr. 138 an der Spitzkehre ein. Feindlicher Einmarsch steht bevor.

19. April 1945

Die 3. amerikanische Armee ist aus dem Fichtelgebirge nach Hof vorgestoßen und steht vor der Grenze des „Sudetengaus“. Allgemein sichern die Amerikaner ihren Vormarsch durch Artillerie, Tiefflieger und Panzer zur Schonung ihrer Soldatenleben. Im krassen Unterschied dazu soll der Deutsche nach Goebbels’ Worten Mann für Mann ins letzte Gefecht gehen „wie in einen Gottesdienst“. Bei ihrem nun folgenden Vordringen haben die Amerikaner keine Verluste im Gegensatz zu etwa 30 deutschen Widerständlern und Zivilisten.

In Asch herrscht Endzeitstimmung, die Wehrmachtslager werden geöffnet, ihre Bestände aus den Fenstern geworfen. Irgendwie kommen wir dazu, ich sehe mich vor einem Riesenhaufen von Bergschuhen stehen. Wir nehmen keine mit, wohl aber Rollen des „Braunhemden“-Stoffes, aus dem dann noch lange Einkaufstaschen und Schürzen geschneidert wurden.

20. April 1945

Nach dem Einmarsch der Amerikaner in Asch und Roßbach zielte ihr weiterer Vormarsch in zwei Richtungen: südlich über Haslau ins Egerland, nördlich über Adorf ins Vogtland. Das bergige Zwischenstück um Werners-, Nieder- und Oberreuth schien ihnen als stiller Winkel weniger wichtig, so dass sie zunächst nur einzelne Punkte mit Granaten beschossen.

21. April 1945

Amerikanische schwere Artillerie feuert von Schönbach, Ascher Gymnasium und Ringstraße in Richtung Niederreuth, Oberreuth und Fleißen. Als Nahziele hat sie Nassengrub und Wernersreuth im Visier. In Unternassengrub gehen die Gehöfte Lederer und Wunderlich in Flammen auf, offenbar um die Nassengruber Straße von vermuteten Widerstandsnestern zu säubern. Dasselbe scheint man an der Oberreuther Straße am Wernersreuther Salaberg vorzuhaben, wo sich im Hause Künzel (Nr. 138) Wehrmachtssoldaten eingenistet haben.

Ahnungslos und leichtsinnig stehen wir auf dem Hofplatz unseres Hauses Nr. 198, als über unsere Köpfe vom Hainberg her Granaten zischen und am Salaberg einschlagen. Die Bergwiese platzt vor braunen Einschusslöchern auf. Ein Geschoss fährt durch die Vorderwand des Hauses Schindler (Nr. 119)) und verlässt es wunderbarerweise wieder durch die Rückwand der Küche, ohne weiteren Schaden anzurichten.

Dann wandern die Granattrichter langsam bergab auf das Haus Künzel zu, bis ein Volltreffer genau durch die Dachgaube dessen Obergeschoss demoliert. (Die Bewohner waren ausquartiert, die Besatzung hatte sich längst verkrümelt). Der Beschuss streicht weiter an der Straße bergauf, verwüstet das Haus Lorenz Künzel (Nr. 184) überm Zinnberg und trifft schließlich das schon zu Oberreuth zählende Haus (Nr. 67) Gustav Künzel. Dort kommt im Keller eine fünfköpfige oberschlesische Flüchtlingsfamilie ums Leben; nur eine Tochter, gerade außer Haus, bleibt übrig. Auch hinterm „Hölzl“ in Oberreuth schlagen Granaten ein.

Verschont wurden die Anwesen Nr. 17 (Flauger), Nr. 153 (Putz), Nr. 186 (Schindler) und Nr. 126 (Wölfl), obwohl sie genauso gut wie das Künzel-Haus als Widerstandsnester die Straße hätten sperren können. Man spekulierte nun: warum? Hatten die Amis Tipps bekommen? Es war doch auffällig, dass die Umgebung des Flauger-Anwesens unversehrt blieb. Und dass im Balzer-Haus nur die Flüchtlinge, nicht die anscheinend gewarnten Eigentümer getroffen wurden.

Man raunte, der junge Hermann Flauger (Jahrgang 1929) sei nach Asch zu den Amis „gerobbt“ und habe ihnen Auskünfte gegeben. In das Bestreben, sein Vaterhaus zu schützen, das wahrhaft auf dem Präsentierteller lag, habe sich auch nachbarliche und politische Vorliebe und Antipathie gemischt — mit dem beschriebenen Ergebnis.

Man könnte es dem jungen Flauger nicht verdenken. Seine Familie hatte durch den Krieg schon genug gelitten. Zwei ältere, tüchtige Brüder waren in Rußland geblieben: Robert gefallen 1943 am Donez, Albin vermisst seit 1944. Darüber war die Mutter krank und schwermütig geworden (sie verstarb vier Wochen nach der Ausweisung).

22. April 1945

Wir sammeln Granatsplitter aus den Salaberger Einschusslöchern. Eine amerikanische Panzerkolonne rückt in Wernersreuth ein und parkt auf der Wiese zwischen Schulhaus und Schneider-Wirtshaus. Ein Jeep fährt zur Bruck, wo drei Ami-Soldaten, worunter ein Schwarzer, mit Gewehr im Anschlag aussteigen. Sie arbeiten sich in der Deckung des Straßengrabens zum demolierten Künzelhaus hinauf, um eventuell verbliebene Wehrmachtssoldaten auszuheben. Die hatten sich aber längst verzogen.

23. April 1945

Die Amerikaner bleiben tagelang in Wernersreuth stehen. Sie behängen Linden an der Straße bis zur Bruck mit Telefonkabeln, an deren herabhängenden Resten wir noch ein Jahr lang schaukeln werden.

Wir erhalten Einquartierung von zwei Ami-Soldaten, die sich mit ihren Schnürstiefeln ins Elternbett legen. Als Verköstigung verlangen sie freundlich „Ex“, was niemand versteht, bis einer mit Daumen und Zeigefinger ein Oval formt. „Eier!“ ruft die Mutter erleichtert.

Die amerikanischen „Schokolade-Soldaten“ werden von der Jugend umlagert und angebettelt. Auffallend wenig (tatsächlich kein) treudeutscher Geist ist bei den vormals strammen Fanfarenbläsern übriggeblieben: „Jetzt hast du wieder die Gelegenheit verpasst, Chocolate zu rufen“, höre ich sie untereinander sagen.

Der Flauger-Hermann nahm sich mehr vor und stibitzte Zigaretten und Keksrollen aus dem Vorratslager der Amis im Schneider-Wirtshaus. Das ging ins Auge, er wurde ertappt. An der Sandgrube vor dem Feiler-Wirtshaus musste er sein Grab schaufeln. Vergebens suchten Umstehende den schussbereiten Ami umzustimmen, der Hermann sei doch noch minderjährig. Erst als das Loch tief genug war, gab ihm der Ami einen Wink, es wieder zuzufüllen, und ließ ihn laufen.

Nach etwa acht Tagen stehe ich auf der eingeebneten Anhöhe am Eck Knöckelweg/Straße) und sehe unter mir die amerikanische Panzerkolonne mit Getöse in Richtung Oberreuth vorbeiziehen. Damit war der Krieg in Wernersreuth zu Maibeginn vorbei.

Tragödie in Oberreuth

Derweil ereignet sich in Oberreuth die traurige Hinrichtung eines jungen deutschen Fahnenflüchtigen. Die damals 14jährige Augenzeugin Gertrud Martin (Oberreuth Nr. 26) erzählt: In einem Brambacher Lazarett lag ein 18-jähriger Soldat aus Berlin. Er war nur leicht verwundet und hatte sich mit einem Mädchen angefreundet. Die beiden beschlossen, sich zu den Amerikanern durchzuschlagen.

Um nicht dem SS-Trupp aufzufallen, der in dem Schuppen des Oberreuthers Wagner Nr. 55 logierte, verkleidete sich der Junge als Mädchen und trug einen Frauen-Turban.

In Oberreuth waren sie sich über den Weiterweg im unklaren und befragten am Haus Nr. 30 den Rudi Löw. Der wurde stutzig und machte der SS Meldung, von der der enttarnte Junge kurzerhand standrechtlich zum Tode durch Erhängen verurteilt wurde.

Das Mädchen wurde in ein Auto gesetzt und musste der Exekution beiwohnen. Beide mussten das Todesurteil unterschreiben. Der Junge wurde zu einem Kastanienbaum geführt (der noch heute steht), wo ihm die Schlinge um den Hals gelegt wurde. Vergeblich flehte er weinend um Gnade, er sei seiner Mutter einziges Kind.

Als er im Todeskampf am Strick hing, brach der Ast ab und fiel mit dem Opfer zu Boden. „Jetzt darf er nicht mehr aufgehängt, er muss erschossen werden“, rief eine uniformierte Frau. „Halt daa Guschn, sinst kinnst selwa droa“ war die Antwort. (Nach dem Dialekt zu urteilen stammte der SS-Mann aus der Nähe.) Trotz erneuten Flehens des Delinquenten wurde die Erhängung durchgeführt.

Der Tote musste noch acht Tage hängen bleiben. Dann nahm ihn mein Stiefvater Andreas Klaschka ab und man beerdigte ihn auf dem Friedhof neben dem Aufbewahrungs-Häuslein.